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Hintergründe

ÉCRASEZ L’INFÂME!

Von Stephanie Twiehaus

Bevor die Tragédie ‚Les Boréades‘ über 200 Jahre nach seiner Entstehung zum ersten Mal zur Aufführung kommen konnte, durchlebte das Werk eine geheimnisumwitterte Rezeptionsgeschichte. Der fast achtzigjährige Rameau komponierte die Oper um 1760; möglicherweise begann er damit bereits Ende der 1750er-Jahre, vermutlich zu einem Libretto des ihm durch jahrelange Zusammenarbeit vertrauten und 1759 (nach kurzer Geistesverwirrung) verstorbenen Librettisten Louis de Cahusac. Ob diese Zuweisung stimmt, wird wohl ein Geheimnis der Geschichte bleiben, denn die Identität des Librettisten der ‚Boréades‘ galt von Anfang an als unbekannt. Für Cahusacs Urheberschaft spricht in erster Linie eine Textanalyse, die Parallelen zu seinen vorherigen Libretti aufzeigt, vielleicht auch die Tatsache, dass das Libretto ebenso freimaurerische wie in der Encyclopédie Diderots und d’Alemberts zu findende Gedanken formuliert: Cahusac war Freimaurer und engagierter Autor der Encyclopédie. Die Frage nach möglichen anderen Librettisten reicht bis zu der u. a. von John Eliot Gardiner vertretenen These, Rameau habe in ‚Les Boréades‘ noch einmal – wie schon in früheren Opern – mit Voltaire zusammengearbeitet.

In gewisser Weise ist es sogar von Vorteil, dass diese offene Frage dazu zwingt, das Libretto nur für sich selbst sprechen zu lassen: Es hat viel zu sagen, was ihm zum Verhängnis wurde.

Unruhige Zeiten

Wann und unter welch genauen Umständen also diese Tragédie auch entstanden sein mag: Es ist fraglos, dass sie im Juni 1763 anlässlich königlicher Festivitäten zur Beendigung des Siebenjährigen Krieges erstmals aufgeführt werden sollte. Alle Vorbereitungen wurden getroffen, das Notenmaterial vorbereitet, eine erste Probe unter Rameaus Leitung fand am 25. April in der Pariser Oper statt, eine zweite am 27. April in Versailles – dann brach die Arbeit unvermittelt ab. Die Suche nach den Gründen füllt mehrere musikwissenschaftliche Abhandlungen, doch zunehmend kristallisiert sich heraus, dass es die Zensur gewesen muss, die der Veröffentlichung des Werkes einen Riegel vorschob.

Um 1760 sorgten die Protagonisten der französischen Aufklärung mehr denn je für gesellschaftliche Unruhe. Die Encyclopédie Diderots und d’Alemberts – ein immer wieder gegen die Zensur kämpfendes, jahrzehntelanges Mammutprojekt, das sich zum Ziel gesetzt hatte, das gesamte Weltwissen zu bündeln – veröffentlichte seit 1751 einen subversiven Gedanken nach dem nächsten. Die beteiligten Philosophen und Wissenschaftler wussten: Wissen ist Macht. Freimaurer, zu denen auch Rameau gehörte, verbreiteten immer offener ihre Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. In Salons wurde heftig diskutiert. Diesen überall aufscheinenden Aufklärungsbestrebungen trat der unter Louis XV noch immer absolutistisch ausgerichtete Staatsapparat mit Willkür und einer erbarmungslosen Gewalt entgegen, die 1757 in der unvorstellbar grausamen öffentlichen Hinrichtung des Attentäters Robert-François Damiens gipfelte. Auch wenn Damiens versucht hatte, den König zu ermorden, stand das Ausmaß der Strafe für viele im deutlichen Widerspruch zum wachsenden Ideal eines dem Volk zugewandten Herrschers. Und allen war unmissverständlich klar: Der Staat lässt nicht mit sich spaßen.

Nachdem die Encyclopédie schon seit 1752 stark gegen die Zensur zu kämpfen hatte, die immer wieder ein Verkaufsverbot aussprach und jegliche regierungskritischen Passagen zu eliminieren versuchte, wurde nun im April 1757 jedem, der Zeilen gegen den König schrieb oder druckte, die Todesstrafe in Aussicht gestellt.

Vor dem Hintergrund dieser Stimmung erweist sich das Libretto der ‚Boréades‘ als hochbrisant, denn unter der Oberfläche einer mythologisch anmutenden Liebesgeschichte verbirgt sich die Schilderung von der Emanzipation eines Volkes, das seinen tyrannischen Herrscher mit der Macht aufklärerischen Denkens zu Fall bringt.

Mythologische Hintergründe

Nur wenige Parameter der Geschichte stammen aus der Mythologie. Dazu gehören die Titelhelden, die Boreaden: Zu ihnen zählen als Stammvater der eisige Nordwind Boreas und dessen zwei Söhne Kalais und Zetes, in der Oper Calisis und Borilée. Ihre Mutter ist die Nymphe Orytheia, die Boreas einst gewaltvoll an sich riss, um sie zu seiner Frau zu machen. Wie dieser auch in der Oper erzählte Mythos deutlich zeigt, herrscht unter Boreaden Einigkeit darüber, dass die Frau, die man ins Auge fasst, sich zu fügen hat. Boreas wird in ‚Les Boréades‘ zum Fürsten der Dunkelheit, dessen Gegenspieler prominenter kaum sein kann: Apoll, seit jeher Gott des Lichts. Zu seinen Attributen gehörte immer auch – vor allem als Waffe gegen das Böse – ein Pfeil. Mythologisch verbrieft ist, dass er einst einem seiner Priester namens Abaris (s)einen Pfeil überließ, der damit um die Erde wanderte, um Gutes zu tun. Damit hat sich die mythologische Quellenlage bereits erschöpft, der Rest ist dichterische Freiheit und erweist sich von hoher Symbolkraft: Die Handlung spielt in Baktrien (sinnfälligerweise dem heutigen Afghanistan), das auch als wichtige Wirkungsstätte des weisen Zarathustra gilt, mit dem sich Rameau und Cahusac bereits in der Oper ‚Zoroastre‘ beschäftigt hatten. In Baktrien herrscht nun die revoltierende Königin Alphise, und der Wegbereiter für Abaris’ Wirken ist der Apollopriester Adamas – beide Figuren sind neu erschaffen und tragen mit Alpha und Adam bereits sinnbildlich in ihren Namen die Anzeichen eines Neuanfangs.

An zentraler Stelle der Handlung taucht L’Amour auf – bezeichnenderweise mit Artikel, wodurch weniger der geflügelte und putzige Liebeschaot Amor als vielmehr „die Liebe“ in Personifikation zu verstehen sein dürfte. Amor ist dafür bekannt, dass er Liebespfeile verschießt. Auch hier übermittelt L’Amour einen Pfeil, allerdings indem er ihn feierlich (der längst verliebten) Alphise überreicht – mit dem Hinweis, hiermit werde sich alles zum Guten wenden. Alphise reicht ihn an Abaris weiter, der damit am Ende die Tyrannen entmachtet: Zwei mythologische Topoi werden neuartig miteinander verwoben.

Der Moment, in dem L’Amour – die Liebe in ihrem allumfassendsten (humanistischen) Sinne – unter die Menschen tritt, ist ein zentraler Wendepunkt in der Handlung, der sich besonders frappierend im Chor zeigt: Bis dahin sang das Volk ausschließlich Phrasen nach, die ihm von anderen Figuren vorgesungen wurden. Nun aber entwickelt das Volk eine eigenständige Sprache: Es wird mündig durch die Erhellung, die mit L’Amours Auftreten um sich greift und entscheidet sich schon bald – ziemlich revolutionär! – für eine neue Herrschaftsordnung, indem es sich entgegen der Tradition Königin Alphise und Abaris als künftige Herrscher wünscht und die Boreaden zurückweist.

Das Zeitalter des Lichts

Es dürfte kein Zufall sein, dass im „Siècle des Lumières“, dessen erklärtes Ziel der Sieg des Lichts über das Dunkel archaischer Zeiten ist, ein Stück derart von Licht-Dunkel-Metaphorik durchtränkt ist, wie ‚Les Boréades‘: illuminer, éclairer, lumière, éclat, brillant, raison …Das Libretto wimmelt nur so vor Licht- und Aufklärungsvokabular.

Etwa zeitgleich mit der Entstehung der Tragédie, in der der Untergang einer durch und durch niederträchtigen Tyrannei geschildert wird, setzte Voltaire seinen Schlachtruf „Zermalmt das Niederträchtige!“ – „Écrasez l’infâme!“ in die Welt: als Fanal des Kampfes der Aufklärer für eine neue, freiheitlich geprägte Gesellschaftsform. (Ob Abaris wohl diese Worte im Sinn hat, wenn er sich aufmacht, „einen harten Gott zu schwächen“?) Voltaires Kampf galt vor allem der unseligen Verknüpfung von Staat und Kirche, die unter dem Deckmantel des Gottgegebenen jegliche Form staatlicher Willkür legitimierte. Auch die Tyrannei der Boreaden macht sich religiöse Riten zunutze, um die eigene Macht abzusichern, doch erweisen sich ihre rituellen Worte als Lippenbekenntnisse – welche Werte der Glaube an Apoll (das Licht) tatsächlich birgt, bleibt ihnen verborgen. In ihrem Mund werden auch Liebesbeteuerungen zu hohlen Phrasen. Welch ein Unterschied zwischen dem innigen Gesang des Abaris und den pathetisch deklamierten Floskeln der beiden Thronanwärter! Borilée und Calisis benutzen den Begriff „Liebe“ nur als Mittel zum Zweck und sind jenseits ihres Strebens nach Macht zu keinem aufrichtigen Gefühl imstande. Das zeigt sich besonders deutlich im Zynismus des Borilée, wenn er nach der Vergewaltigung von Orythie fordert, daraus zu lernen, wie man richtig liebt. Und auf lächerliche Weise entlarvt es sich, wenn Calisis, kaum dass Alphise sich öffentlich für Abaris entschieden hat, nach seinen bis dahin vollmundigen Liebesbeteuerungen augenblicklich das Ende seiner Liebe erklärt und nun beim Volk um die Macht buhlt.

Mit dieser Lesart offenbart sich eine durchgehende, tiefere Deutungsebene des Stückes. Und wie ernst es dem Komponisten um den Inhalt war, zeigt sich auch an dem kleinen Detail, dass er sein Werk ausschließlich „Tragédie“ nannte und auf sonst übliche Gattungszusätze wie „en musique“ oder „lyrique“ verzichtete. Eine solche seltene Reduktion des Titels auf die inhaltliche Substanz findet sich auch z. B. in Glucks Tragédie ‚Iphigénie en Tauride‘: Die Musik steht im Dienst der Aussage.

Wer auch immer das Libretto schrieb, er war ganz offensichtlich bestens vertraut mit den einschlägigen Aussagen der Encyclopédie. Ein zentraler Artikel war 1752 mit Diderots Darlegung der „Autorité politique“ erschienen, der viel Aufsehen erregte und den Unmut der Zensoren heraufbeschwor. Einzelne Passagen dieses Aufsatzes wirken wie eine Inhaltsbeschreibung der ‚Boréades‘: Die Darstellung tyrannischer Herrschergewalt, das Recht auf Selbstbestimmung jedes Einzelnen, sobald er mit väterlicher Hilfe mündig geworden ist, das Mitspracherecht des Volkes, Fragen nach Erbrecht und den Möglichkeiten, die Krone abzulegen … Alphise wehrt sich gegen die Gesetzeslage nach eigenen Worten mit der Erhellung ihrer Vernunft, Abaris will mit dem „Licht“ das Schicksal der Welt zum Guten wenden – und den Herrschenden ist auch mit bestem Willen nichts Gutes abzugewinnen.

Jahrhunderte der Vergessenheit

Verständlich also, dass die Zensur dieses Stück unmöglich tolerieren konnte. Es verschwand von den Notenpulten und ging in den Privatbesitz der mit Rameau befreundeten Familie Decroix über, die das Notenmaterial 1843 der Pariser Nationalbibliothek überließ. Von dort fand es erst in den 1970er-Jahren durch John Eliot Gardiner wieder zurück in die Musikwelt: Durch ihn erlebte es 1975 in der Londoner Queen Elizabeth Hall seine (konzertante) Uraufführung und 1982 beim Festival Aix-en-Provence seine szenische Erstaufführung in der Regie von Jean-Louis Martinoty.

Doch noch war das Werk für die Opernwelt nicht gewonnen: Der französische Verleger Alain Villain machte sich das französische Urheberrecht zunutze, das – wie er selbst erklärte – „demjenigen, der es unternimmt, ein bisher nicht publiziertes posthumes Werk zu veröffentlichen, ein alleiniges Nutzungsrecht zuerkennt“.

Die Aufführungsrechte ließ sich Villain derart teuer bezahlen, dass nur sehr wenige finanzkräftige Veranstalter sich die Oper leisten konnten.

Für die meisten blieb ‚Les Boréades‘ unerschwinglich. Die bislang einzige Aufführung in Deutschland fand 1996 unter Frieder Bernius beim Stuttgarter Musikfest statt, wo unter dem Motto „Choreographie im Konzert“ eine konzertante Aufführung des Stücks mit ausdrücklich nicht handlungsbezogenem Tanz angereichert wurde.

Nachdem die Schutzfrist 2019 endlich abgelaufen war, nahm die französische Edition Opera Omnia de Rameau, die im Auftrag der Société Jean-Philippe Rameau sämtliche Werke des Komponisten ediert und seit 2003 vom Bärenreiter-Verlag vertrieben wird, umgehend eine wissenschaftliche Neuausgabe der ‚Boréades‘ in Angriff: unter der Federführung der französischen Musikwissenschaftlerin und führenden Rameau-Expertin Sylvie Bouissou, die sich mit ‚Les Boréades‘ bereits seit langem intensiv beschäftigt hatte. Da das Autograph der ‚Boréades‘ verschollen ist, basiert die Neuedition vor allem auf einer akkuraten Partiturabschrift, die der Chefkopist der Pariser Oper Jean-Georges Durand 1763 für die geplanten Aufführungen erstellt hatte und die von Rameau akribisch Korrektur gelesen und während der beiden Proben mit Anmerkungen versehen worden war. Diese wissenschaftliche Neuedition erlebt nun mit der Oldenburger Erstinszenierung des Werkes ebenfalls ihre Premiere. Es wird spannend sein zu verfolgen, wie sich ‚Les Boréades‘ künftig auf den Spielplänen etabliert; durchaus denkbar, dass aufmerksame Zensoren in manch einem Staat auch heute noch die Aufführung verbieten würden – denn auch nach 260 Jahren hat diese Tragédie nichts von ihrer politischen Brisanz verloren.

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